
Visionen für eine nachhaltige Mobilität
Der Mobilitätsbedarf weltweit steigt. Doch wie lässt sich fortschrittliche Fortbewegung auf nachhaltige Beine stellen? Darüber diskutierten beim diesjährigen Nachhaltigkeitskongress Experten aus Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft.
Nicht mal ein Dutzend Hände gingen nach oben, als Journalistin und Moderatorin Inka Schneider am 28. März im 23. Stock des Hamburger Emporio Tower den Gästen zur Begrüßung die Frage stellte, wer mit dem Auto angereist sei. Das Ergebnis war trotz der 400 Anwesenden wenig überraschend, schließlich ging es beim Nachhaltigkeitskongress, der den würdigen Rahmen für die Preisverleihung zum »ZEIT WISSEN-Preis Mut zur Nachhaltigkeit« bildete, genau darum: Wie sind wir in Zukunft möglichst umwelt- und sozialverträglich unterwegs?
Visionen aus Vergangenheit und Zukunft
Geht es nach Joachim Radkau: möglichst emissionsfrei. Der Autor, Historiker und ebenso begeisterte Radfahrer wie Fußgänger begann seinen Vortrag mit einem Exkurs in die »Geschichte der Zukunft«. Von einem Sammelband war die Rede, der 1910 mit dem Titel »Die Welt in 100 Jahren« in Berlin erschien. Darin steckte, so Radkau, kein einziger Beitrag zum Automobil oder zum Thema Mobilität. Weitere Visionen drehten sich eher um die Eisen- und Straßenbahn. Selbst heute gehöre das eigene Auto für ihn nicht zum modernen Menschen. Ein Beweis dafür sei das sich immer weiter verbreitende Modell »Carsharing«.
Sein erstes Auto sei ein Audi 50 gewesen, heute fahre er ein Elektrofahrzeug – so stellte Andreas Sentker, ebenfalls Initiator der Veranstaltung, Herausgeber des Magazins ZEIT WISSEN und Leiter des Ressorts Wissen der ZEIT, den nächsten Redner vor. Prof. Dr. Stephan Rammler begann mit einer These, die ihm vor Jahren noch Ärger eingebracht habe, heute allerdings Mainstream sei: »Wir stehen am Anfang vom Ende der uns bekannten Mobilität und Automobilität.« Diese Automobilität schließe laut dem viel zitierten Mobilitäts- und Zukunftsforscher das Besitzen eines Autos, das Selbst-Fahren und den Verbrennungsmotor ein. Genau diese drei Aspekte aber gelte es zu verändern. Er benannte drei große Megatrends, die für die Veränderung der Mobilitätskultur mit verantwortlich seien: das Bevölkerungswachstum und die damit verbundene Urbanisierung, die Nachhaltigkeit und die Digitalisierung.
Dem Experten zufolge diskutiere die Forschung aktuell über folgende Trends, die zur Lösung der Mobilitätsprobleme beitragen könnten: Elektrifizierung, Automatisierung, Vernetzung, die Sharing Economy und die Fahrradkultur. Allerdings seien sie nur unter bestimmten Voraussetzungen hilfreich. Rammler betont: »Es ist ein Irrglaube, die Mobilitätswende werde sich unter rein marktwirtschaftlichen Bedingungen als Selbstläufer einstellen. Sie ist abhängig von einer Politik, die etwas anders macht.« Rammlers persönliche Faustregeln für ein nachhaltiges Mobilitätsverhalten: möglichst wenig Fliegen, wenig Fleisch essen und bewusst einkaufen.
Expertendiskussion: Wie muss eine Verkehrswende aussehen?
Dass es nicht die eine Lösung beim Ringen um nachhaltige Mobilitätskonzepte geben kann, zeigte die anschließende Podiumsdiskussion. Dr. Tom Kirschbaum, Gründer und Geschäftsführer des Mobilitätsunternehmens door2door und leidenschaftlicher Anhänger der Digitalisierung, setzt beim öffentlichen Nahverkehr an. Revolutionieren wolle er ihn. Wie ihm dies gelinge? Indem er neue, intelligente Services mit dem klassischen Nahverkehr kombiniere und so Angebote schaffe und vorhandene Lücken fülle. »Damit kann die Utopie, die hier heute bereits greifbar wurde, Realität werden, nämlich dass eine Stadt ohne das eigene Auto erreichbar werden kann.«
Statt um Alternativen zum bereits vorhandenen Nahverkehr und der Einrichtung zusätzlicher mobiler Services dreht sich beim Ansatz des Umweltplaners und Verwaltungswissenschaftlers Konrad Otto-Zimmermann alles um autofreie Städte. Dass das möglich ist, hat er in Südafrika und Südkorea bereits bewiesen. Einen Monat lang verbannte er aus einzelnen Bezirken riesiger Städte so gut wie alle Autos. In dieser Zeit waren die Menschen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit kleinen Elektrofahrzeugen und Shuttles unterwegs. Neben diesen praktischen Experimenten, der Digitalisierung, dem autonomen Fahren und den Sharing-Modellen weist Otto-Zimmermann außerdem auf die mangelnde Effizienz hin, mit der sich die Menschen fortbewegen. Während überall immer alles kleiner und smarter geworden sei, gewinne das Auto stetig an Größe, vor allem durch die beliebten SUVs mit häufig über zwei Tonnen Leergewicht. Viel effizienter, umweltfreundlicher, günstiger und smarter seien dagegen elektrische Fahrzeuge für ein bis zwei Personen. Damit erziele man eine Befreiung der Stadträume, die im Augenblick gerade durch parkende Autos überfüllt seien.
Rammler, der später mit Radkau die Runde komplettierte, teilt Otto-Zimmermanns Meinung, dass es für Veränderungen experimentelle Situationen braucht, sieht aber – ähnlich wie Kirschbaum – durchaus eine Chance in der Digitalisierung: »Der öffentliche Verkehr wird individueller, der individuelle Privatverkehr kollektiver – und die Hilfe digitaler Medientechnologien macht es möglich.« Noch dazu, betont Rammler, brauche es den Mut der Politik, um Veränderungen zu bewirken. Einen weiteren Hebel sieht Radkau in dem von Rammler erwähnten Megatrend zur Urbanisierung. Gerade in großen Städten, wo der Autoverkehr an sich selbst ersticke, sei damit vielleicht eine radikale Verkehrswende möglich.
Das Publikum diskutierte mit
Die Gesprächsrunde erwies sich auch für das Publikum als interaktiv. Es wurden Fragen gestellt, über die rege diskutiert wurde. Eine davon drehte sich um die schlichte Idee, autofreie Sonntage einzurichten. Otto-Zimmermann reagierte schnell: »Das ist schön, aber langweilig.« Ein solches Experiment müsse schmerzen und zu wirklichen Gewohnheitsänderungen führen, dafür sei mindestens eine Woche, eher ein Monat nötig. Neben vielen technischen, politischen und strukturellen Publikumsfragen gab es aber auch eine psychologische: Wie verändert man nachhaltig die Mentalität der Menschen? Die Antwort darauf gab Kirschbaum, der davon überzeugt ist, dass vor allem dann ein Umdenken stattfindet, wenn Menschen die Chancen und Vorteile neuer Angebote erleben. Diese positive Pädagogik sei zielführender und erfolgreicher als der reine Verzicht durch Verbote.
Fotos: Phil Dera

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